Die drohende Insolvenz von Evergrande, dem zweitgrößten Immobilienentwickler in China, prägt derzeit die Schlagzeilen. So manch einer mag dabei Parallelen zu den Anfängen der Finanzkrise 2008 erkennen – lag auch die Quelle dieser Krise in Fehlentwicklungen am Immobilienmarkt und mündete schließlich in einer der größten globalen Rezessionen in der Nachkriegszeit. Steht jetzt also die nächste Krise vor der Tür? Wir beantworten für Sie die drängendsten Fragen.

Wer ist Evergrande?

Das 1996 gegründete Unternehmen Evergrande ist der zweitgrößte Immobilienentwickler Chinas und beschäftigt rund 165.000 Mitarbeiter. Das Unternehmen entwickelt landesweit rund 1.300 Immobilienprojekte, darunter Hochhäuser und Einkaufszentren. Das eigentliche Kerngeschäft liegt in der Immobilienentwicklung, was Evergrande in der Vergangenheit aber nicht davon abgehalten hat, einen Fußballclub zu kaufen oder in anderen Branchen, wie E-Autos oder Nahrungsmitteln, tätig zu werden. Evergrande hat in den vergangenen 25 Jahren einen schnellen Expansionskurs hingelegt, der über Kreditaufnahmen und Anleiheemissionen finanziert wurde. Deshalb zählt Evergrande schon seit längerem zu den am höchsten verschuldeten Konzernen weltweit. 

Warum taumelt das Unternehmen jetzt unter der Schuldenlast?

Im Wesentlichen lassen sich die Entwicklungen auf das System zurückführen, mit dem Evergrande seine Geschäfte betreibt. Das Vorgehen gleicht einem Schneeballsystem. In einem ersten Schritt wird Geld aus dem Vorverkauf von Immobilien lukriert. Dabei wechselt die Zahl der Wohnungen ständig und auch die Einlagen von hunderttausenden Einzelanlegern werden eingesammelt. Dieses Geld wird in der Folge dazu verwendet, weitere Verkäufe zu finanzieren. Hier fließen die Mittel vor allem in die Beschleunigung der laufenden Bauprojekte und der Finanzierung von weiteren Anzahlungen. Das geht gut, so lange sich die Schulden vermehren lassen und das Interesse an Immobilienkäufen zunimmt. Eng wird es, sobald das Kaufinteresse abnimmt. Dann werden die eingehenden Geldflüsse weniger und die wachsenden laufenden Zahlungen können nicht mehr gedeckt werden.

Den eigentlichen Stein ins Rollen brachten jedoch verschärfte Regelungen der chinesischen Regierung im Sommer 2020. Die chinesische Regierung hatte bereits Jahre zuvor die Entwicklung am Immobilienmarkt samt steigender Verschuldung mit Argusaugen beobachtet – so wie auch internationale Marktteilnehmer. Die neuen Regelungen sehen nun vor, dass Chinas Immobilienentwickler und ihre kreditgebenden Banken einer stärkeren staatlichen Kontrolle unterzogen werden, mit dem Ziel, die Kreditaufnahme zu begrenzen und die Verbindlichkeiten zu reduzieren. Dafür hat Chinas Regierung drei rote Linien eingezogen:

Chinas „rote Linien“ für Immobilienentwickler: Das Verhältnis von Verbindlichkeiten und Vermögenswerten soll unter 70 % liegen. Der Nettoverschuldungsgrad soll unter 100 % liegen. Das Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten soll größer als der Faktor 1 sein.

Evergrande erfüllt keine dieser Vorgaben.

Das Geschäftsmodell gepaart mit der stärkeren Regulierung trafen Evergrande dann im Juni dieses Jahres das erste Mal, als es bei Zinszahlungen in Verzug kam. Wenig später warnte Evergrande dann davor, dass Liquiditäts- und Ausfallsrisiken steigen würden. Es folgten erste Banken, die Evergrande die Kreditverlängerungen verweigerten, sowie Herabstufungen durch internationale Ratingagenturen. Im August 2021 riefen die chinesische Zentralregierung und die Aufsichtsbehörden das Management von Evergrande schließlich offiziell auf, die Schulden zu reduzieren und den Konzern zu stabilisieren. Das Vertrauen in das Unternehmen sank weiter. Zeitgleich setzte sich die Talfahrt an der Börse fort, sodass die Aktie des Unternehmens seit Jahresbeginn mehr als 85 % ihres Wertes verlor. Auch am chinesischen Aktienmarkt nahm die Verunsicherung und Volatilität zu. 

Wen würde ein Konkurs von Evergrande treffen?

Evergrande hat sich in den letzten Jahren massiv verschuldet. Aktuell belaufen sich die offenen Verbindlichkeiten auf rund USD 300 Mrd. Setzt man diesen Betrag in Relation, so wird das Ausmaß des Schuldenbergs erst deutlich. Die offenen Verbindlichkeiten haben mit USD 300 Mrd. eine Höhe erreicht, die 2 % des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht – oder anders ausgedrückt dem gesamten BIP Finnlands.

Die wichtigsten Kreditgeber für Evergrande sind Banken, wo das Unternehmen 90 % seiner Schulden hat – den Großteil davon bei chinesischen Instituten. In Summe hat Evergrande allerdings Verbindlichkeiten bei 128 Banken und 120 Gesellschaften angehäuft.

Doch auch Kunden von Evergrande fürchten nun um ihr Geld. In China warten mehr als 1,2 Mio. Menschen darauf, dass Evergrande ihre bereits angezahlten Immobilien fertigstellt. Wegen Zahlungsausfällen werden die Beschwerden von Lieferanten und Subunternehmen lauter und auch auf den Evergrande-Baustellen ruhen die Arbeiten. Eine betriebswirtschaftliche Liquiditätskrise wie aus dem Lehrbuch.

Was kann Evergrande noch tun, um den Konkurs abzuwenden?

Oberste Priorität für Evergrande hat aktuell das Auftreiben frischer Liquidität, um die Forderungen von Banken, Lieferanten und Anleihegläubigern fristgerecht zu bedienen. Bei zwei Mitte September fälligen Zinszahlungen für Kredite und Anleihen schaffte das Unternehmen zumindest vorübergehend eine Einigung über einen Teil der fälligen Zahlungen.

Das Unternehmen versucht aber bereits seit einiger Zeit seine Liquiditätsstruktur zu verbessern. In der zweiten Jahreshälfte 2020 war Evergrande dabei am Kapitalmarkt noch erfolgreich. So brachten ein Aktienverkauf rund USD 555 Mio. sowie die Börsennotierung der Immobilienverwaltungseinheit rund USD 1,8 Mrd. ein. Auch der anteilige Verkauf des Tochterunternehmens aus dem Bereich E-Mobilität brachte noch USD 3,4 Mrd. – und das, obwohl diese Tochtergesellschaft bis heute kein einziges E-Auto verkauft hat.

Natürlich ist die Mittelbeschaffung am Kapitalmarkt für Evergrande aktuell faktisch nicht möglich. Und hier setzt ein Teufelskreislauf ein: Das fehlende Vertrauen potentieller Investoren lässt die Vertragsverkäufe zurückgehen. Dadurch verschlechtern sich die laufenden Einnahmen und der Cash Flow des Unternehmens weiter. Evergrande ist dazu übergegangen, Unternehmensteile und Immobilien abzustoßen – aber der Erfolg ist sehr überschaubar.

Wie es nun weitergeht, ist schwer auszumachen. So könnte eine Zerschlagung des Konzerns samt Umstrukturierung der Schulden folgen. Denkbar ist auch ein Debt/Equity-Swap, bei dem die Gläubigerforderungen in eine Beteiligung am Unternehmen umgewandelt werden. Oder die chinesische Regierung sorgt mit Zwangsmaßnahmen für Teilverstaatlichungen, einem Stop von Deinvestitionen oder eine kontrollierte Umstrukturierung der Schulden. Die Liste ist lang. Chinas Machthaber halten sich (noch) bedeckt.

Greift die chinesische Zentralregierung ein?

Fest steht, dass die chinesische Regierung sich nicht offiziell zum Fall Evergrande geäußert hat. Aus heutiger Sicht lassen sich Argumente sowohl für, als auch gegen einen Eingriff der Regierung finden.

Für einen Eingriff spricht…

  • China will die Stabilität im Finanzsystem in jedem Fall gewährleisten.
  • Too big to fail – Evergrande ist zu groß und der Konkurs könnte einen Dominoeffekt auslösen, der den gesamten chinesischen Immobilienmarkt treffen würde – samt Banken und privaten Wohnungskäufern.
  • Die chinesische Zentralbank hat Mitte September bereits eingegriffen, um den Kapitalmarkt zu beruhigen, indem USD 14 Mrd. über kurzfristige Liquidität in das Bankensystem gepumpt wurden.

Gegen einen Eingriff spricht...

  • Regierungsnahe Zeitungen verlautbaren, dass Evergrande nicht so bedeutend sei, als dass ein Konkurs mit allen Mitteln verhindert werden müsse.
  • Der Immobilienmarkt in China ist seit Jahren überhitzt und die chinesische Regierung will an Evergrande ein Exempel für andere hochverschuldete Immobilienentwickler statuieren.
  • Chinas neue Beschränkungen (3 rote Linien) läuten einen Wandel ein und sollen Luft aus der Immobilienblase lassen.

Sollte die Evergrande-Krise zu sozialen Unruhen führen, ist es wahrscheinlich, dass die Regierung aktiv wird. Für die autoritäre Regierungspartei ist soziale Stabilität das wichtigste Legitimationsargument.

Droht eine globale Krise?

Dass Chinas Immobilienmarkt überhitzt ist, ist schon länger bekannt. So hat der Internationale Währungsfonds (IWF) bereits 2018 vor einer übermäßigen Blasenbildung gewarnt.

Die Entwicklungen lassen sich mitunter darauf zurückführen, dass die Lokalregierungen in den letzten Jahren ein lukratives Geschäft aus dem Verkauf von staatlichem Land gemacht haben. Erstmals konnten Bewohner in Städten ihre Wohnung kaufen, die zuvor ihren kommunalen Arbeitseinheiten gehörten. Und in China hat sich der Besitz von Eigentum zu einem Zeichen von sozialem Status entwickelt. Die Immobilienkäufe haben die privaten Haushalte durch günstige Kredite finanziert, wodurch viele Millionen Chinesen zu Eigenheimen gekommen sind.

Bereits jetzt von einer Immobilienkrise in China zu sprechen, ist verfrüht. Es ist wahrscheinlich, dass die Behörden eingreifen werden, um mögliche negative Entwicklungen aus der Evergrande-Krise auf den Immobiliensektor zu begrenzen. Damit scheint eine größere Immobilienkrise eher unwahrscheinlich. Auch geht man aktuell nicht davon aus, dass selbst ein Bankrott von Evergrande das Finanzsystem derart ins Wanken bringen könnte, wie es der Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 bewirkte.

Zu bedenken ist allerdings die Gefahr, dass ein möglicher Bankrott von Evergrande den chinesischen Immobiliensektor härter trifft und dabei zu einer Verlangsamung des chinesischen Wirtschaftswachstums führt. Denn der Immobiliensektor ist ein wichtiger Teil der Wirtschaft in China und macht mehr als ein Viertel aller Investitionen aus. Und die chinesische Wirtschaft ist seit Jahren die tragende Stütze des globalen Wachstums.

Auf den Punkt gebracht

Derzeit ist es schwer einzuschätzen, wie es mit dem Immobilien-Riesen Evergrande weitergeht. Vor allem, weil sich Chinas Regierung noch bedeckt hält. Sollte es Evergrande nicht gelingen, die Insolvenz abzuwenden, könnte dies den chinesischen Immobilienmarkt jedoch empfindlich treffen. Gleichzeitig sind die Probleme von Evergrande hauptsächlich innerchinesisch und nach aktuellem Wissensstand wurden die Kredite nicht verbrieft und weiterverkauft – was bekanntlich 2008 zur Ausweitung auf eine globale Finanzkrise geführt hat. Von einer Immobilienkrise in China zu sprechen, ist aktuell sicherlich verfrüht.

Fest steht, dass die staatliche Kontrolle der Privatwirtschaft in China zunimmt. Offiziell verfolgt Peking das Ziel, das soziale Gefüge und das Volk zu schützen. In der Vergangenheit standen vor allem die großen Technologie-Konzerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In Erinnerung bleibt der zwei Tage vor dem Debüt gestoppte Börsengang der Alibaba-Tochter Ant Group. Doch die harten Vorschriften treffen auch andere Sektoren – wie der Nachhilfe-Markt oder Immobiliensektor zeigen. Chinas Regierung hat dem Wachstum dabei auf keinen Fall abgeschworen. Wie weit die Einflussnahme der Regierung aber noch gehen wird, ist ungewiss. Und auf Ungewissheit reagieren die Kapitalmärkte bekanntlich mit höherer Volatilität – damit wird man auch in Zukunft leben müssen.

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