Die Wirtschaft im Euroraum ist in eine sogenannte technische Rezession abgerutscht. Von einer technischen Rezession spricht man, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwei Quartale in Folge geschrumpft ist. Wie das Statistikamt Eurostat unlängst berichtete, ist das BIP im ersten Quartal 2023 um 0,1 % gegenüber dem Vorquartal gesunken. Die Daten zum Schlussquartal 2022 wurden von Eurostat auf ebenfalls -0,1 % nach unten revidiert, womit die Bedingung erfüllt ist. In einer früheren Schätzung war noch ein kleines Plus gemeldet worden. Auch die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Rezession. Österreich ist an einem Wirtschaftsabschwung noch gerade so vorbeigeschrammt.
Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft lässt nach
Die Rezession im Euroraum im Winterhalbjahr (Q4 2022 und Q1 2023) dürfte zum einen auf den inflationsbedingten Kaufkrafteinbruch der Bürger zurückzuführen sein (siehe unten). Zum anderen hängt sie mit den Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank EZB zusammen. Die EZB hat seit Sommer letzten Jahres die Zinsen mittlerweile achtmal in Folge um insgesamt 400 Basispunkte angehoben. Der Hauptrefinanzierungssatz liegt aktuell bei 4 %, der Einlagensatz bei 3,5 %. Dies ist nicht spurlos an der Wirtschaft vorbeigegangen. Einige Frühindikatoren wie zum Beispiel der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe weisen schon seit mehreren Monaten darauf hin, dass die Wirtschaft im Euroraum an Schwung verliert. Und die EZB hat unlängst die Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Umfrage veröffentlicht, wonach viele Banken ihre Kreditvergabestandards spürbar verschärft haben und auch noch weiter verschärfen wollen. Die Banken reagieren damit insbesondere auf die Risiken im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aussichten für Unternehmen und Verbraucher. Zinserhöhungen machen sich allerdings erst mit einer großen Verzögerung von vier bis sechs Quartalen bemerkbar. Denn nach der ersten Zinserhöhung ist die Geldpolitik immer noch locker. Erst nach mehreren Zinsschritten wirkt sie neutral und nach wiederum weiteren Schritten restriktiv. Das heißt, die straffere Geldpolitik der EZB entfaltet erst jetzt so langsam ihre volle Wirkung. Im Sommer 2022 vor Beginn der Zinserhöhungen lag das BIP-Wachstum im Euroraum noch bei +0,4 % gegenüber Vorquartal. Der EZB ist dies bewusst. Sie steckt in einem Dilemma: Auf der einen Seite will sie die Wirtschaft zwar nicht abwürgen, auf der anderen Seite muss sie aber die nach wie vor hartnäckige Inflation – die Gesamt-Teuerungsrate lag im Mai noch bei 6,1 %, die Kernrate bei 5,3 % – mit ihrer strafferen Geldpolitik zügeln.
Innerhalb des Euroraums zeigt sich ein sehr heterogenes Bild: Positiv stachen im ersten Quartal Luxemburg und Portugal mit einem BIP-Wachstum von 2,0 % bzw. 1,6 % im Vergleich zum Vorquartal hervor. Schlusslicht war Irland mit einem Minus von 4,6 %. Das deutsche BIP ist um 0,3 % geschrumpft (siehe unten), Österreichs Wirtschaft hat im Jahresauftaktquartal stagniert.
Die Situation in Deutschland
Deutschland als größte Volkswirtschaft im Euroraum bekommt oftmals mehr Aufmerksamkeit als andere Länder. Ende Mai hat das Statistische Bundesamt das deutsche BIP für das erste Quartal um drei Zehntel nach unten revidiert, so dass der später von Eurostat berichtete Rückgang des BIP im Euroraum keine allzu große Überraschung mehr war. Neben den oben angeführten Zinserhöhungen der EZB haben vor allem die massiv gestiegenen Energiepreise in unserem Nachbarland ihren Tribut gefordert. Unter diesen hat der private Verbrauch gelitten – die Kaufkraft der Bürger hat stark nachgelassen. Zwar nimmt mittlerweile der Druck seitens der Energiepreise ab, dafür dürften sich die Auswirkungen der Zinserhöhungen im zweiten Halbjahr zunehmend bemerkbar machen. In Deutschland weisen mit dem Ifo-Geschäftsklimaindex, dem Einkaufsmanagerindex und den Auftragseingängen jetzt alle wichtigen Frühindikatoren nach unten.
Wie lange dauert die Rezession und wie tief wird sie?
In Deutschland und im Euroraum könnte das BIP im zweiten Quartal aufgrund des nachlassenden Inflationsdrucks und des sich daraus ergebenden möglichen stärkeren privaten Verbrauchs sowie aus technischen Gründen wieder leicht zulegen. Dies muss aber nicht unbedingt auf eine Kehrtwende hindeuten. Vielmehr ist in Deutschland in den letzten 50 Jahren auf jeden Zinserhöhungszyklus (zunächst von der Bundesbank, später von der EZB) eine Rezession gefolgt. Und mit der oben erwähnten Wirkungsverzögerung der Zinserhöhungen ist ein (neuerlicher) Wirtschaftsabschwung sogar recht wahrscheinlich.
Neben der Frage nach der Länge einer Rezession ist der Aspekt deren Tiefe fast noch wichtiger. Viele Volkswirte und Marktbeobachter sind hinsichtlich des letzten Punkts relativ optimistisch. Denn insbesondere der Arbeitsmarkt zeigt sich im Euroraum insgesamt betrachtet sehr stabil bzw. eng. Die Arbeitslosenquote lag im April bei 6,5 %. Viele Unternehmen leiden unter einem ausgeprägten Arbeitskräftemangel, so dass sie ihre Mitarbeiter auch dann nicht entlassen dürften, wenn die Produktion zurückgeht. Daneben sind viele Unternehmen im Vergleich zu früher widerstandsfähiger aufgestellt, was sich zum Beispiel in höheren Eigenkapitalquoten widerspiegelt.
Der Markt erwartet, dass das BIP im Euroraum in diesem Jahr um 0,6 % steigt, gefolgt von einem etwas stärkeren Wachstum von 1,0 % im nächsten Jahr. Damit sind die Marktteilnehmer zwar etwas pessimistischer als zum Beispiel der Internationale Währungsfonds IWF (0,8 % für 2023 und 1,4 % für 2024), der in seinem letzten Konjunktur-Ausblick im April allerdings die Abwärtsrisiken betont hatte. Eine länger andauernde oder gar tiefe Rezession unterstellen sie mit ihren Schätzungen aber nicht. Vielmehr implizieren diese eine gewisse wirtschaftliche Erholung im Jahresverlauf.
Kaum eine Reaktion an den Kapitalmärkten
An den Kapitalmärkten war bislang von einer konjunkturellen Schwäche kaum etwas zu spüren. Die Rendite 10-jähriger deutscher Staatsanleihen stellvertretend für die Eurozone bewegt sich seit Jahresbeginn unter Schwankungen weitgehend seitwärts. Mitte Juni lag sie bei 2,45 % und damit nur rund 12 Basispunkte unter dem Niveau vom Jahresbeginn. Im Falle einer bevorstehenden Rezession hätte man mit einem stärkeren Renditerückgang rechnen können. Ein Warnsignal gibt es allerdings doch: Die Zinsstrukturkurve, betrachtet mit 2- und 10-jährigen Staatsanleihen, ist seit November letzten Jahres invers. Das heißt, die Rendite kürzer laufender Staatsanleihen liegt über der länger laufender. Dies war in der Vergangenheit oftmals ein verlässlicher Indikator für einen Wirtschaftsabschwung.
Die Aktienmärkte in Europa sind gemessen am Dow Jones Stoxx 600 in diesem Jahr gestiegen, was ebenfalls nicht auf eine Rezession hindeutet. Der Index liegt seit Jahresbeginn mit 9,4 % im Plus. Der deutsche Aktienindex DAX hat Mitte Juni sogar ein neues Rekordhoch erreicht. An den Aktienmärkten scheinen die Händler relativ gelassen zu sein, was sich auch in der sehr niedrigen Volatilität widerspiegelt. Zwischenzeitliche Korrekturen waren eher den gestiegenen Zinserwartungen als Sorgen vor einem Konjunkturabschwung geschuldet. Möglicherweise sind die Marktteilnehmer aktuell aber auch zu sorglos, was zur Vorsicht mahnt.
Auf den Punkt gebracht
Die Konjunkturdaten im Euroraum haben sich in den letzten Monaten eingetrübt, was gegen eine merkliche Erholung der Wirtschaft spricht. Darauf deutet auch der von Citigroup erhobene und viel beachtete Economic Surprise Index hin, der seit Anfang Mai im negativen Bereich liegt. Das heißt, die veröffentlichten Konjunkturdaten fallen in Summe schwächer aus als erwartet. Dennoch sieht der Markt dies alles relativ gelassen. Die Marktteilnehmer gehen offenbar nicht von einer tiefen Rezession aus oder erwarten überhaupt keine, womit ein sogenanntes hard landing der Wirtschaft vermieden würde. Vielmehr unterstellen sie, dass die Unternehmen dem Gegenwind seitens der Konjunktur trotzen. Dies spiegelt sich in den in den letzten Monaten gestiegenen Aktienkursen wider.
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Marketingmitteilung
Stand 19.06.2023
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